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Beitrag vom 03.09.2008
Der neue Andreas Dresen - Wolke 9 erzählt von Liebe und Sex im Alter
Anna Opel
Diesjähriger Preisträger des Coup de Coeur in Cannes: Inge setzt sich im Seniorinnenenalter dem Abenteuer Liebe aus, trifft eine Entscheidung und schließt sich an den Puls des Lebens an
Im ersten Bild sitzt Inge (Ursula Werner) unschlüssig neben der Nähmaschine im ehelichen Schlafzimmer und schaut vor sich hin, macht sich dann mit der Straßenbahn auf den Weg und bringt ihrem Kunden Karl die frisch geänderte Hose vorbei.
Karl (Hort Westphal) probiert gleich an. Und zwischen Rascheln, scheuen Blicken und Atemzügen entsteht eine Spannung, die sich ohne Worte und weitere Umschweife in einem Liebesakt auf dem Teppichboden entlädt. Inge macht sich heimlich aus dem Staub, doch der charmante Karl stattet ihr bald einen Gegenbesuch ab. Die seit 30 Jahren Inge verheiratete Inge wehrt sich noch gegen die sich anbahnende Romanze. Schließlich sucht sie aktiv die Chance zu neuem Glück.
Dresen erzählt seine Dreiecksgeschichte zunächst ungeachtet der Tatsache, dass es sich hier um SeniorInnen handelt. Es ist eine Sommerliebe, der man in ästhetischer Hinsicht etwas mehr Leichtigkeit gewünscht hätte. Weniger elegische Bilder von der mal blühenden, mal tropfenden Natur, dafür vielleicht mal eine schwungvolle Melodie, denn: Inge und Werner sind wie vom Blitz getroffen, sie suchen und finden einander, Glück der ersten Verliebtheit.
Bald wird Inge von Gewissensbissen gegenüber ihrem Mann gequält, sie sucht Rat bei ihrer Tochter und wird, gegen deren dringende Empfehlung, schließlich alles gestehen.
An diesem Punkt gewinnt das Alter an Bedeutung. Werner (Horst Rehberg), der gekränkte Ehemann, erinnert seine Frau zwischen zwei Vorwürfen an das nahe Ende. Und die Tatsache, dass diesen dreien nur noch wenig Zeit bleibt, verleiht der Konstellation einen wehmütigen Unterton. Inge muss sich entscheiden, mit welchem Mann sie die letzten paar Jahre ihres Lebens verbringen wird. Die letzten Jahre, in denen sie Lust ausleben kann, in denen sie in einem buchstäblichen Sinne "lebendig" ist. Und wie lebendig sie geworden ist, durch ihre Begegnungen mit Karl, wird im Film vielleicht am deutlichsten, wenn sie bei ihrer Chorprobe steht, inmitten lieber Gesichter, die nichts mehr erwarten, ist sie die Frau, die liebt und damit gegenwärtig und mit allen Fasern an den Puls der Welt angeschlossen.
Inge entscheidet sich und ihre Wahl wird dramatische Folgen haben.
Mit der Figur der Inge haben Regie und die Schauspielerin Ursula Werner eine Frau von bemerkenswerter innerer Freiheit und Geradlinigkeit geschaffen. Mit einer Hinwendung zum Reichtum und zur Vielfalt des Lebens. Sie versagt sich nichts, sie ist nicht bescheiden, sie sucht ihr Glück und kämpft darum. Ohne eigentlich zu wissen, wie das gekommen ist. Ohne, dass irgendjemand an irgendetwas schuld ist. Einfach so.
Das dramatische Ende hätte es nicht gebraucht, um der zeitlosen Geschichte Gewicht zu verleihen. Die langen Kameraeinstellungen und die völlige Abwesenheit von Musik tragen allerdings einen etwas aufgesetzten "Realismus" in dieses Werk. Weniger Bedeutungsschwere hätte auch der Autonomie der Figuren gut getan, die so immer ein bisschen wirken, wie unters Mikroskop gezerrt.
Die ungewöhnliche Liebesgeschichte hat bei den Filmfestspielen in Cannes soeben ihre umjubelte Weltpremiere gefeiert und ist dort mit dem ´Coup de Coeur´ der Jury von Un Certain Regard ausgezeichnet worden. Die Filmbewertungsstelle Wiesbaden hat dem Film das Prädikat "besonders wertvoll" verliehen und darüber hinaus wurde "Wolke9" beim European Film Festival im serbischen Paliæ mit dem Preis für die ´Beste Regie´ ausgezeichnet. Das gleichnamige Buch zum Film von Andreas Dresen über Liebe und Sex im Alter erscheint zum Kinostart am 1. September 2008 im Gatzanis Verlag.
Andreas Dresen ("Sommer vorm Balkon") hat mit dem Team von "Halbe Treppe", digitaler Technik und einem einzigartigen SchauspielerInnensemble einen Film über Sehnsucht und Sexualität im Alter gedreht.
"Wolke 9" ist eine Produktion von Rommel Film e.K. in Koproduktion mit dem RBB, in Zusammenarbeit mit Arte und gefördert vom Medienboard Berlin-Brandenburg, dem Deutschen Filmförderfonds, dem BKM und dem Filmkunstpreis des Festival des deutschen Films.
AVIVA-Tipp: Dresen hat sich überwiegend klischeefrei und erfrischend offen, dafür vielleicht ein bisschen sehr optimistisch mit der Welt der SeniorInnen befasst. Gern würde man im betreffenden Alter selbst noch so viel vom Leben wollen – und bekommen. Die Zuschauerin wird mit freimütigen Sexszenen konfrontiert, die Dank der guten Regie und der SchauspielerInnen fast gar nicht peinlich sind. Definitiv kein bisschen unangemessener, als Sexszenen im Film generell zu sein pflegen.
Wolke 9
Regie: Andreas Dresen
DarstellerInnen: Ursula Werner, Horst Rehberg, Horst Westphal, Steffi Kühnert
98 Minuten
Kinostart: 04.09.2008
Deutschland 2008